Die Türkei erlebte am Sonntag ein freies, faires und friedliches Referendum zur Verfassungsänderung, um das Regierungssystem von einem parlamentarischen zu einem präsidialen zu wechseln.
Während der Kampagne schlossen sich die regierende „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei" (AK-Partei) und die Partei der „Nationalistischen Bewegung" (MHP) zusammen. Allerdings gab es ein auffälliges Ergebnis vom Sonntag: Trotz der vollständigen Unterstützung der Parteiführung, hat der Kern der MHP größtenteils gegen die Verfassungsänderung gestimmt.
Die MHP, wie man durch die Volksabstimmung sehen kann, ist eine Partei ohne viel Disziplin. Während die Führung beschloss, ein bestimmte Richtung zu unterstützen, scheiterten sie ihre Unterstützer zu überzeugen, die eher als Sympathisanten als loyale Parteimitglieder beschrieben werden sollten.
Die AK-Partei konnte sich die Unterstützung der Parteibasis seit 2014, als Recep Tayyip Erdoğan zum Präsidenten gewählt wurde, bewahren. Eine weitere wichtige Erkenntnis ist die beachtliche Unterstützung der „Ja"-Kampagne in den Provinzen, die zuvor die „Demokratische Partei der Völker" (HDP) in den Parlamentswahlen am 1. Novembers 2015 unterstützt hatten. Diese Erkenntnisse werden auf jeden Fall mittel- und langfristige Konsequenzen für alle Beteiligten haben. Allerdings möchte ich sie auf provinzieller Basis untersuchen.
Die HDP überwand die 10-Prozent-Hürde und trat nach den letzten Parlamentswahlen am 1. November 2015 in das Parlament ein. Von den 14 Provinzen im Osten, wo sie dominant waren und wo sie für eine „Nein"-Stimme kämpften, stimmten zehn gegen die Verfassungsänderungen. Die gemeinten Provinzen sind namentlich Batman, Diyarbakır, Bitlis, Hakkari, Iğdır, Kars, Mardin, Muş, Siirt, Şırnak, Tunceli, Van, Urfa und Ağrı. Doch die vier Provinzen Muş, Urfa, Kars und Bitlis stimmten für die Reformen. Von all diesen Provinzen verdient Urfa besondere Beachtung.
Die Bevölkerung von Urfa ist weitgehend konservativ und steht im Einklang mit der AK-Partei Wählerschaft. Bei den Wahlen am 1. November 2015 hatte die HDP 28 Prozent der Provinz-Stimmen erhalten. Doch sehen wir in den vorherigen Wahlen ein klareres Bild. Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 erhielt die AK-Partei 48 Prozent der Stimmen im Vergleich zu den 38 Prozent der HDP. Dies zeigt, dass die HDP in der Provinz ein ernstes Potenzial hat. Mehr als 70 Prozent der Wähler in Urfa stimmten am Sonntag mit einem „Ja" und zeigten damit aber auch, dass die potenziellen HDP-Wähler ebenso für die Verfassungsänderungen gestimmt haben.
Bitlis bietet ein noch deutlicheres Beispiel dafür, wie ein überraschend großer Teil der Kurden die Verfassungsänderung unterstützt hat. Die HDP hatte mit 49 Prozent, die meisten Stimmen bei den Wahlen am 1. November erhalten. 59 Prozent der Wähler aus derselben Provinz unterstützen jedoch auch die „Ja"-Kampagne. Es scheint offensichtlich, dass Kurden, die die Stabilität unterstützen und der Ankara-Regierung nicht feindlich gegenüber stehen, sich durch die Entscheidung der HDP befremdet fühlen. Seit 2015 tut die HDP wenig, um die Gewalt der PKK-Terroristen zu stoppen.
Eine weitere Überraschung war die Unterstützung in Muş und das trotz der Tatsache, dass die Bevölkerung dort, bei den letzten Parlamentswahlen mit 61,8 Prozent die HDP unterstützte. Muş, so wie auch Urfa, beherbergt eine Wählerschaft, die mit der AKP-Linie konform geht.
Die Investitionen in der Region und die Zukunft, die der kurdischen Gemeinschaft in Aussicht gestellt werden, wirken sich direkt auf das Zusammengehörigkeitsgefühl aus.
Während Kars nicht wie Hakkari, Siirt, Batman, Mardin, Şırnak oder Diyarbakır als HDP-Hochburg angesehen wird, erhielt sie dort bei den letzten Wahlen mit 34 Prozent Stimmt-Anteil eine erhebliche Unterstützung. Bei den Wahlen am 7. Juni, erhielt die HDP 43 Prozent der Stimmen in Kars. Ihre Unterstützung für die PKK schadete ihnen immens mit einem Verlust von neun Prozent in Kars. Dennoch stimmte Kars, im Gegensatz zu ihren benachbarten Provinzen mit einem „Ja" zu den Reformen.
Trotz der soliden Unterstützung für die HDP , die es in vielen Provinzen im Osten und Südosten der Türkei gibt, sollte sie die Tatsache, dass die „Nein"-Stimmen in mehreren ihrer Hochburgen nur knapp über 50 Prozent lagen, dennoch mit Sorge beachten. Zwar ist es nicht verwunderlich, dass die Partei in Diyarbakır, Hakkari, Batman und Şırnak über 60 Prozent an Unterstützung erreichen konnte, doch sollte ihr schwindender Einfluss in den meisten Provinzen der Region, ein offensichtliches Warnsignal sein. Sie sollten die kurdischen Stimmen nicht länger für selbstverständlich halten.