Im Jahr 2017 ist Deutschland wirtschaftlich gesehen immer noch einer der führenden europäischen Staaten. Manch einer aus den unteren Lohnklassen wünscht sich diese Tatsache auch am eigenen Leib zu spüren. Zu spüren bekommt er meist jedoch die Kürzungen, die sein Leben ein Stück für Stück erhärten. Während es den Gutverdienern immer besser geht, machen sich die Missstände im unteren Teil der Gesellschaft immer deutlicher bemerkbar. Themen wie Kinderarmut und unzureichende Renten werden oft beklagt, aber nicht wirklich angegangen – wen bestürzt es nicht, wenn er alte Rentner beim Flaschen sammeln sieht? Anders scheinen Manche nicht mehr über die Runden kommen zu können.
Diese beschämende Situation hat man den vergangenen Regierungsperioden zu verdanken. Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder hat ihrerseits zwischen 1998 und 2005 die Grundlagen für den heutigen – negativen Trend - in der Sozialpolitik gelegt. Wer hätte vorher gedacht, dass die Sozialdemokraten einst dem Arbeiter und den Armen in den Rücken fallen würden?
Die nachfolgende schwarz-gelbe Koalition hat dann die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft vorangetrieben indem sie mit der Leih- und Zeitarbeit eine neue Nische für die Ausbeutung von Arbeitskraft geschaffen hat, die später auch von der aktuellen großen Koalition weiter gefördert wurde – geholfen hat das in erster Linie den Arbeitgeber und der Arbeitslosenstatistik. In dieser kann man nämlich auf den ersten Blick nicht erkennen, dass viele Leiharbeiter auf Zusatzleistungen vom Staat angewiesen sind, weil ihre Arbeit nicht ausreichend vergütet wird, obwohl die Unternehmen dazu in der Lage wären – zumindest wenn sie mal vom Ideal des Profitmaximierung abkommen, und auch mal die moralische Seite der Medaille im Auge hätten. Unternehmen, die ihre sozialen Verpflichtungen ernst nehmen, bilden leider nicht die Mehrheit.
Statt die Kernprobleme und Bedürfnisse der Gesellschaft und der Welt anzugehen, werden mit medialer Stützung, populistische Themen formuliert, an denen sich die Parteien dann gegenseitig messen. Da diese populistischen Themen meistens keinen Spielraum für konstruktiv-progressive Ideen liefern, bleiben die großen Visionen meistens aus – verändern tut sich nach der Wahl deshalb nicht viel. Wie denn auch? Wenn alle Parteien versuchen, sich am gleichen Konsens zu nähren?
Von blinden Bürgern und schlechten Politikern
Doch wieso gewinnen die etablierten Parteien immer wieder die Gunst der Wähler? Ganz einfach: Sie beherrschen die Kunst das Gefühl von Normalität und Kontinuität zu vermitteln und dabei große Missstände kleinzureden – und so lange die Bürger alle vier Jahre mitspielen, und brav wie gewohnt wählen, wird sich nicht viel ändern. Volker Pispers hat dieses Phänomen mit seinem Kabarett schon öfter entlarvt.
Es scheint so, als würde etwas grundlegend Neues, egal ob es eine Besserung bringt oder nicht, die Menschen abschrecken - so dass sie am Ende das Gewohnte wählen, und sich, für sie kleinste Übel entscheiden.
Gegen die Unzufriedenheit demonstrieren, tun die Wenigsten. Denn gestorben scheint auch die einstige Protestkultur, zusammen mit den damaligen Protagonisten, die nun, wenn nicht tot, dann aber betagt sind.
Darüber hinaus geht auch eine Generation von Charakterstarken Politikern mit Prinzipien und zwischenmenschlichen Kompetenzen verloren. Mit inniger Nostalgie blickt man heute auf die politischen Debatten vergangener Tage zurück, wo die Akteure noch echte Emotionen zeigten, ohne im Niveau einer Seifenoper einstudierte Floskeln zu verkünden – und ohne sich zigfach an normativen Artikulationsregeln zu messen.
Man möge mal eine politische Wahlkampfdebatte im Öffentlich Rechtlichen, damals und heute, vergleichen, z.B. jene vor den Bundestagswahlen 1976. Nicht alles was dort artikuliert wurde mag richtig sein oder gefallen, aber niemand kann den Debatten die Authentizität abschreiben. Man vergleiche Helmut Schmidt mit Martin Schulz, Helmut Kohl mit Angela Merkel oder Hans-Dietrich Genscher mit Christian Lindner – entsteht da nicht direkt ein gedanklicher Kontrast? Wenn Merkel und Schulz heute ihre Reden halten oder sich duellieren, dann wirkt alles auswendig gelernt, als würde man das sagen, was man sagen müsste. Darüber hinaus herrscht ein zu großer Konsens in der Politik, der nicht sein darf. Wenn Unterschiede zwischen Christ- und Sozialdemokraten kaum mehr ersichtlich sind, dann läuft was falsch. Ebenso, wenn sich die Grünen plötzlich der Rhetorik von Rechtspopulisten bedienen und Özdemir „fast schon brüderlich" mit Lindner auftritt - so wurde das Verhältnis beim „Bericht aus Berlin" auf ZDF treffend beschrieben - dann läuft etwas grundlegend verkehrt in Deutschland.
Fehlende Sozialkompetenzen und mangelnde Ideen, die aus Angst vor zu großen Veränderungen verursacht werden, lassen sich dann auch in der Außenpolitik erkennen und führen zu Defiziten im Konfliktlösungspotential.
Politiker, die sich dem eigenen Status quo nicht fügen, werden zu Gegner stilisiert. Wie soll beispielsweise ein Präsident wie Recep Tayyip Erdoğan, der sich charakterlich und visionär fundamental von dem Prototyp eines deutschen Politikers unterscheidet, mit ihnen klar kommen?
Dadurch wird letztendlich auch die Polarisierung der Gesellschaft vorangetrieben, obwohl man eigentlich einen entgegengesetzten Trend anstreben sollte.
Die FDP – eine Rückkehr aus dem Abgrund
Wer hätte nach der Bundestagswahl-Pleite der FDP im Jahr 2013 gedacht, dass sie nur vier Jahre später ähnlich starke Umfragewerte wie vor der Bundestagswahl 2009 haben wird? Wahrscheinlich nicht viele. Manche hätten die FDP damals zu gerne mit einem Totengebet vergraben, so dass sie nie wieder auferstehe. Andere prophezeiten Jahrzehnte lange Phasen einer Neustrukturierung der Partei, ähnlich einem städtischen Neuaufbau nach einer atomaren Katastrophe.
Doch wie konnte das Geschehen? Die FDP verfolgte zunächst eine passive und reumütige Strategie, die dann parallel zu den steigenden Umfragewellen an Ausdruck gewann und immer aggressiver wurde. Die FDP hat sich währenddessen von einige Kernthemen wie Bürgerrechten oder Datensicherheit entfernt, sie ist jedoch weiterhin am Wirtschaftsliberalismus orientiert, in der primär die bereits gut Verdienenden auf weitere Privilegien hoffen können.
Die FDP setzte für ihren Wiederaufstieg auf eine ähnliche Methode wie die SPD, nach dem Motto „wenn schon keine Inhalte, dann eben eine schöne Verpackung", diese Aufgabe erfüllte Lindner gar nicht mal so schlecht. Die FDP kam leise und anschmiegsam aus dem Keller herauf geklettert, ohne große Worte an den Tag zulegen – die einen Tritt zurück in den Keller hätten provozieren können. Fehler wurden eingeräumt und man behauptete daraus gelernt zu haben. Lindner war plötzlich ein gefragter Gast in den Talkshows, wo er sich als sympathischer und Menschen-naher Typ zu profilieren versuchte. Die Leute scheinen ihm das abgekauft zu haben.
Nachdem die FDP wieder zurück im Erdgeschoss angekommen war, wurde auch die Rhetorik wieder markanter - nun konnte sich die Partei wieder ins Rampenlicht drängen. Heute scheint die Klientelpolitik der FDP während ihrer letzten Beteiligung an der Bundesregierung in Vergessenheit geraten zu sein. Die Steuerbegünstigung fürs Hotelgewerbe ist wohl das einzige, was einem von der FDP Koalitionsregierung in Erinnerung geblieben ist. Dem voraus gegangen waren enorme Parteispenden von Unternehmen, die der Mövenpick-Gruppe nahe stehen. „Mit dem Eintritt der FDP in die Bundesregierung gewinnen die Unternehmerlobbyisten an Einfluss", konstatierte damals Elmar Wigand vom Verein „LobbyControl".
Von der Idee eines Grundeinkommens, die allen, auch den Benachteiligten in der Gesellschaft zugutekommen würde, hält Lindner nicht viel, „weil manchmal brauchst du so einen Arschtritt", so Lindner in der Pro7 Sendung „Ein Mann, eine Wahl". Dies spiegelt zum Teil auch das prekäre Menschenbild der FDP wieder. Der Mensch wird unterschwellig zum Arbeitstier reduziert, der den fast schon heilig gesprochenen freien Markt am Leben erhalten muss. Dafür muss im Notfall Wasser und Brot reichen. Wer sich dem nicht unterwirft, dem würde in einem von der FDP alleine geführten Staat, wahrscheinlich das soziale Aus drohen.
Flüchtlingsdebatten verfehlen die Kernproblematik
Das Thema Flüchtlinge sorgt seit Jahren für viel Diskussionen. Während die rechten Ränder daraus Kapital zu schlagen versuchen, bieten Parteien wie die CDU und SPD kleinflächige Lösungsvorschläge an, die nicht wirklich zu einer globalen Lösung beitragen.
Die Flüchtlingsproblematik wird vor allem von der SPD als primär innereuropäisch zu lösendes Problem stilisiert, dabei spielt sich die Tragödie in den Außengrenzen der EU und in den Konfliktregionen ab. Was würde sich schon groß verändern, wenn Ungarn und andere osteuropäische Staaten sich bereit erklären würden, Flüchtlinge aufzunehmen? Das Flüchtlingsproblem muss dort gelöst werden, wo es entsteht. Damit ist nicht die Kooperation mit Staaten wie Libyen gemeint, die das Problem nur von der EU fernhalten sollen. Von den Missständen und inhumanen Bedingungen, denen die Flüchtlinge in Nordafrika ausgesetzt sind, braucht man nicht viel reden, fast alle kennen sie, und genauso viele ignorieren sie. Amnesty Generalsekretär Markus N. Beeko schreibt dazu: „Flüchtlinge und Migranten in Libyen werden inhaftiert, vielfach misshandelt und oft gefoltert. Viele werden Opfer von Erpressungen und Vergewaltigungen durch organisierte Banden und bewaffnete Gruppen. Dies ist ausreichend dokumentiert und den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten bekannt." Kann eine Doppelmoral noch offensichtlicher zu Tage treten? Missstände scheinen nur von Bedeutung, wenn sie sich im Radius eigener Interessen bewegen.
Burak Altun hat Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der WWU Münster studiert. Aktuell arbeitet er als freier Journalist für Daily Sabah und studiert Wissenschaftsphilosophie.