Inmitten der deutsch-türkischen Polemik hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan im August eine grundlegende Erneuerung innerhalb der AK-Partei angekündigt. Diese Nachricht fand jedoch keine sonderlich große Beachtung in den Medien - obwohl diese Revision weitreichende politische Veränderungen mit sich bringen könnte, die dann vermutlich auch Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei haben würden.
Eine zwingend notwendige Erneuerung
Erdoğan hatte sich in Vergangenheit wiederholt über die „geistige Erschöpfung" innerhalb der Partei beklagt. „Eine umfassende Veränderung" in den personellen Verwaltungsstrukturen sei zwingend notwendig. Er ging nicht näher auf die spezifischen Probleme ein, aber diese scheinen klar: Nach enorm langen und größtenteils erfolgreichen Regierungsperioden droht in den unteren Ebenen ein schleichender Stillstand. Köpfe, die jahrelang gedient haben, sind müde geworden. Der anfängliche Enthusiasmus ist scheint vorbei. Dies aber, so betonte es auch der Präsident, ist in einer Welt, die sich ständig weiterentwickelt, gefährlich und bedroht das bisher Erreichte genauso wie den Fortschritt. Auf der anderen Seite sind viele neue Leute in die Partei eingetreten und haben teilweise wichtige Posten inne - aber werden diese den Anforderungen und der Verantwortung, die sie tragen, auch gerecht?
Als die AK-Partei 2002 erstmals an die Regierung gekommen war, herrschten in Staat, Militär und Bürokratie kemalistisch geprägte Strukturen. Die Staatsbürokratie war traditionell geistig starr gesinnt und anti-pluralistisch eingestellt - unwillig für progressive Innovationen und Reformen. In den Jahrzehnten nach der Staatsgründung hatte sich eine obere Gesellschaftsschicht herausgebildet, die sich stetig biologisch sowie geistig reproduzierte. Eine eigene, in sich geschlossene Welt, in der Menschen nach ihrer geistige Haltung und Herkunft bemessen wurden.
Die AK-Partei hingegen war eine Bewegung von unten – angeführt von Menschen, die unter dem alten System und der Ungerechtigkeit gelitten hatten. Die Partei war nicht nur Sammelbecken für fromme Gesellschaftsschichten, die aufgrund ihres Glaubens ausgegrenzt wurden, sondern auch für gegensätzliche politische Strömungen. Sie alle vereinte das Streben nach Gerechtigkeit und Entwicklung, was sich dann auch im ausgewählten Parteinamen widergespiegelt hat. Die langsame Sprengung alter Strukturen durch zahlreiche Reformen kam primär dem einfachen Bürger und den Minderheiten zugute.
Die Vetternwirtschaft wurde Stück für Stück beseitigt, es kamen frische und motivierte Leute, die für ihre Sache kämpften - nicht für persönlichen Ruhm, sondern für ihre Ideale. Dies glich einem Batteriewechsel, aber auch die besten Batterien gehen irgendwann leer. So führt auch die Monotonie im Leben eines Politiker unweigerlich zum Stillstand. Die Ziele sind dann nicht mehr vertikal, sondern horizontal geortet. Das Erreichte wird versucht geebnet und einzementiert zu werden. Neue Ideen, Kritik und Reformen, die vorher als Mittel angewandt wurden, um eine Verbesserung zu erlangen, können im nächsten Moment als Bedrohung aufgefasst werden. Denn nun sind diese gegen die eigene Machtposition gerichtet, weil es eine zweite politische Macht im Staat nicht mehr gibt. Die Eliten, die ihre Macht mit dem Kemalismus zu begründen versuchten, den sie als Staatsideologie instrumentalisierten, haben alle ihre Positionen im Staatsgefüge längst verloren. Nun könnte eine neue Bewegung von unten entstehen. Es liegt an der Regierung, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, um dann gemeinsam nach etwas Besserem zu streben. Anderenfalls droht man in alte Strukturen zurückzufallen.
Nepotismus ist nicht nur ein Phänomen der alten Türkei, sondern immer auch ein aktuelles - immer dort zu finden, wo sich Stillstand breit macht. Je extremer die Vetternwittschaft, desto unfähiger die Verwaltung und Politik. Die Folgen müssen dann aber alle tragen - auch der Arbeiter, der fleißig geschuftet hat, um seine Familie zu ernähren und nichts zu verantworten hat.
Eben dieser Gefahr ist die AK-Partei momentan ausgesetzt. Durch den Putschversuch und die dadurch ausgelösten Entlassungen in den staatlichen Institutionen befreite man sich zwar Stück für Stück von der Bedrohung der Gülen-Sekte (FETÖ), aber dadurch wurden auch unweigerlich neue Probleme geschaffen. Denn die leer gewordenen Stellen müssen irgendwie gefüllt werden. Doch hier scheint der Bedarf an qualifiziertem Fachpersonal höher zu sein, als vorhanden. Dieser Engpass führt unweigerlich zu Missständen, die sich auch auf die politische Bühne übertragen - vor allem wenn Personen aus verbündeten Ländern in Prozesse in der Türkei involviert sind. So wie aktuell im Fall der unter diversen Beschuldigungen inhaftierten deutschen Staatsbürger.
Problemverlagerung von unten nach oben
Die Rechtssprechung ist ein heikles Thema. Sie sollte im Idealfall für gerechte Urteile sorgen, kann aber unter Umständen durch falsche Urteile Menschen Schaden zufügen. Die Justiz ist zudem eine Garant der Gewaltenteilung. Probleme, die hier entstehen, können weitreichende Folgen mit sich bringen.
So können juristische Entscheidungen zu politischen Konflikten führen - nicht nur im Inland, sondern auch mit Partnern in den Internationalen Beziehungen. Auch die Wirtschaft kann dadurch beeinträchtigt werden. Beispielsweise durch mögliche Sanktionen von außen oder verringerte Investitionen von ausländischen Unternehmen.
Ein falsches oder von anderen als falsch aufgefasstes Urteil kann also eine Kettenreaktion auslösen, die am Ende auf diverse Ebenen im Staat übergreifen kann. Doch wo liegt die Lösung? Zunächst sollten juristische Probleme durch Juristen gelöst werden. Hierbei wäre eine bilaterale Kooperation hilfreich.
Die Probleme sollten also am besten in den Bereichen gelöst werden, wo sie entstehen - ohne politisiert oder instrumentalisiert zu werden. Die Interaktion könnte jedes Mal durch zusätzliche unparteiische und kompetente Berater aus Drittstaaten unterstützt werden. Da die betroffenen Institutionen mit den eigenen Problem am besten vertraut sein müssten, wäre hier eine Lösung, oder zumindest ein beidseitiger Kompromiss, am ehesten möglich.
Aktuell sieht man anhand der deutsch-türkischen Beziehungen wie Probleme und Lösungsansatz einen Streit auslösen können, der dann auf der politischen Bühne ausgetragen und medialisiert wird. Dass die deutsch-türkischen Beziehungen zum Status quo konfliktfreier Zeiten zurückkehren, wünschen sich viele, aber der Wunsch allein genügt nicht. Einer Mäßigung der Rhetorik auf beiden Seiten muss ein Strategiewechsel im Umgang mit zwischenstaatlichen Problemfällen folgen.
Burak Altun hat Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der WWU Münster studiert. Aktuell arbeitet er als freier Journalist und studiert Wissenschaftsphilosophie.