Die Kritik von Slavoj Zizek gegen den türkischen Staat ist überholt, wenn man die erheblichen Fortschritte in den letzten zehn Jahren berücksichtigt.
Es war 2007, und als Bachelor-Studentin hatte ich die Gelegenheit Slavjoy Zizek an der Istanbul Bilgi Universität zu hören. Der Konferenzraum war prallvoll, und ich konnte ihm nur von einem Live-Feed in einem anderen Raum zu hören. Zizek wurde von den Intellektuellen in der Türkei herzlich willkommen geheißen. Seine Kritik am Neoliberalismus und dem Kapitalismus hat zu meinem Verständnis der modernen Welt beigetragen und bedeutete sehr viel für mich.
Doch vor zwei Tagen sah ich den Tweet „Zizek schrieb für Cumhuriyet". Ich war überrascht, obwohl sich meine Verwunderung nicht lange gehalten hat, weil der Artikel ursprünglich von der NewStatesmen veröffentlicht wurde. Was mir auffiel, war wie Zizek's bedingungslose Unterstützung für zwei Journalisten der Cumhuriyet ihn dazu brachte, für die Zeitung zu schreiben, was ihn zum willigen Werkzeug der regierungsfeindlichen Haltung und Propaganda der Zeitung machte.
In den letzten Jahren kam das positive öffentliche Bild von Zizek unter massivem Druck, nachdem er bei seiner Bewertung der Probleme der Migration und der anhaltenden Krise im Nahen Osten zu einer Art europäischen politischen Korrektheit unterlag, wofür ihn seine Kritiker tadeln. Viele würden diese naive und unzufriedene Weise der Äußerung als mitteleuropäische Voreingenommenheit benennen.
Mit dem Luxus in der Lage zu sein frei über die Grenzen des privilegierten Europa zu reisen, redet Zizek hochmütig über die Türkei, dass sie die Schuld haben, dass die Daesh-Kämpfer die Grenze nach Syrien überqueren können. Praktischerweise versäumt er zu beachten, dass die Türkei aus humanitären Gründen einen freien Durchgang über seine 900 Kilometer langen Grenze mit Syrien erlaubt.
Seine Vorwürfe, dass die Türkei den Verkauf von Daesh-Öl vereinfacht, fallen flach, wenn man bedenkt, dass einige Nationen die Grenzübergänge streng überwachen. Die Daesh erzielt weiterhin hohe Einnahmen durch die vielen Ölfelder in Syrien, dem Irak und Libyen, und ihre Makler und Käufer aus den so genannten zivilisierten Welt von Zizek lassen dies zu.
Nichtsdestotrotz ist es ziemlich erstaunlich solche Klischees von einer Person zu hören, die als ein starker, ehrlicher und sicherlich ein direkter Kritiker dieser Standards und Klischees angesehen wurde. Nun sagt er: Die Türkei würde der Daesh nicht nur mit der Behandlung von ihren verwundeten Soldaten und den Ölexporten in den kontrollierten Gebieten ihr diskret helfen, sondern auch durch den Angriff auf kurdische Kräfte, die EINZIGE lokale Kraft, die sich gegen den schweren Kampf gegen die Daesh engagiert. Außerdem hat die Türkei einen russischen Kämpferjet abgeschossen, der Daesh-Positionen in Syrien angreifen sollte.
Ich weiß nicht, wann oder warum Zizek sich von einem mutigen Kritiker der russischen Aggression zu einem Sympathisanten von Handlungen dieser Art geworden ist. Es stellt sich die Frage, ob Zizek's Freunde in der Türkei ihn fehlleiten.
Wie kann er diese altmodische Kritik an staatlichem Terror wieder hochbringen, die in den 1990er Jahren gültig waren, aber nun nicht mehr? Wie kann er jetzt ein Teil von, oder auch Manipulant, bewusst oder unbewusst, einer sehr gut koordinierten Kampagne gegen Recep Tayyip Erdoğan sein, der ursprünglich Kampagnen gegen die Gülenisten oder PKK-Sympathisanten ins Leben gerufen hatte.
Solche eklatante Fehlinformationen, die die Grundlage der Argumente Zizek's bildet, präsentiert ein sehr falsches Bild von der Türkei, und ist das Grundnahrungsmittel der westlichen Medien geworden. Ihre Bestandteile sollten einzeln in Angriff genommen werden.
Veraltet, entfremdet
Es besteht kein Zweifel, dass die Türkei ein verschosseneres Land bis in den frühen 2000ern war. Die Bemühungen, um eine hohe Alphabetisierungsrate zu erreichen, waren einer der Top-Ziele der Türkei, die jedoch verfehlten. Die Alphabetisierungsrate war bis vor kurzem immer noch viel niedriger als bei vergleichbaren Ländern. Die staatliche Ausgrenzungspolitik verhinderte ihre Vielzahl an Bildungsprogrammen, die umsonst sind, in die entlegenen Gebiete zu verbreiten und somit entrechteten Gruppen zu erreichen.
Eine homogene und weltliche Lehre schuf eine türkische Identität, die zur Hälfte an sunnitische, aber nicht fromme, Bürger der Nation gerichtet war. Alewiten, fromme Sunniten und Kurden hatten keinen Platz in dieser neuen Ordnung, sie konnten nicht vollständig von den umfangreichen öffentlichen Dienstleistungen profitieren. Ihre Präsenz wurde in der Öffentlichkeit nicht ermutigt.
Zizek's Analyse des türkischen Staats ist sehr wahr und seine Kritik ist akkurat, aber nur ein paar Jahrzehnte zu spät. Seit ihrer Gründung hat die Türkei eine übergreifende Kraft, die die Bedeutung ‚ein Bürger des Staates zu sein' definiert, gestaltet und überarbeitet.
Die kurdische Identität zum Beispiel, war das Opfer der unbestreitbaren Durchsetzung der Staatsideologie. Tatsächlich ist die kurdische Frage und die Herausforderung diese zu lösen, aus dem Versuch des Staates, die überwältigende türkische Homogenität auf die kurdische Sprache, Identität und Kultur zu projizieren, entstanden.
Die PKK und ihr jetzt inhaftierter Anführer Abdullah Öcalan, hatte nahezu die ganze geistige und ressourcenreiche Unterstützung der Kurden im Südosten der Türkei. Die Reaktion des Staates war nur militärisch und vor allem basierte sie auf der Strategie, den Kampf um jeden Preis zu beenden, was zu unzähligen Todesfällen, zur interner Migration, gezwungene Umsiedlungen und Evakuierungen von Siedlungen führte. Abgesehen davon führte es zur sozioökonomischen Verschlechterung und Verarmung in der Region, auch unter den Türken.
Die kurdische Frage, unter der Ferse des Militärs und durch die Überwachung von wichtigen, pensionierten Ex-Militäre, die Politiker wurden, gipfelte in einem Bürgerkrieg geringer Intensität zwischen den PKK-Terroristen und dem türkischen Militär in den 1990er Jahren.
Die kurdische Integration kann nicht vertuscht werden
Der türkische Staat, an den sich Zizek erinnert, war eine funktionierende interventionistische „großer Bruder" Regierung. Zizek ist sicherlich mit dieser Geschichte vertraut. Allerdings mangelt es an seiner Geschichte, die er als Wahrheit präsentiert, die Entwicklungen der letzten zehn Jahre und die Transformation des Staates, der Gesellschaft und des Individuums, was für mich erstaunlich ist.
Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AK Partei) eröffnete ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen dem Staat und der Gesellschaft, und initiierte ein neues und umfassenden Verständnis, nicht nur zu der Kurdenfrage, sondern auch allen anderen, meist identitätsbasierenden, sozialen Problemen, die der Staat für Jahrzehnte unterdrückt hatte.
Es war in erster Linie die AK-Partei Regierung, die eine introspektive und selbstkritische Analyse des Staates eingeleitet hat. Die neue Strategie basiert auf der Akzeptanz der Identitäten, der Unterschiede, das Streben nach einen Zusammenleben und der Suche nach einer Lösung, den Teufelskreis des Blutvergießens zu beenden.
Die Haltung der AK-Partei war die natürliche Folge ihres Aufstiegs zur Macht als soziale Bewegung, weniger als eine politische Partei. Sie sind wie ein Graswurzel-Outfit, die die Grundwurzeln der dysfunktionalen, jahrhundertalten Gewohnheiten des Staates erschütterten.
Es war eine Graswurzel-Reaktion zu einer etablierten Elite, Unterstützer der Status Quo und der Allianz der Bürokratie und Militär, gegen die gewählten Politiker. In ihrer zweiten Amtszeit, führte die AK-Partei Regierung eine politische Perspektive zu der Kurdenfrage, die zuvor nur in der Arena des Militärs war.
Die Politik wuchs als Selbstkritik des Staates und wandelte im Laufe der Zeit, die De-facto-Politik der Leugnung der kurdischen Identität, zu einer positiven Haltung und Akzeptanz der kurdischen Forderungen, die, wie ich finde, einer der besten Leistungen der AK-Partei ist.
Dies wurde nicht Friedensprozess genannt, weil jeder Frieden an Krieg erinnert. Sie wurde nicht Lösungsverfahren genannt, wie viele darauf bestanden, da eine Lösung für ein Problem dasteht, jedoch sind Kurden nicht das Problem. Die ganze Angelegenheit ist ein Versöhnungsprozess, die viele Reformen, Aussöhnungen und Änderungen für die Region und Menschen benötigt.
Ein einziges Beispiel könnte ausreichen den mehrarmigen und vielschichtigen Prozess zu erklären. Die Muttersprache meines Vaters, Kurdisch, wurde jahrzehntelang verboten, sogar für tägliche Unterhaltungen. Singen, schreiben und sogar flüstern auf kurdisch wurde als illegal angesehen. Wir erinnern uns an die komische, aber auch tragische Geschichte von Musa Anter's Pfeifen, der bestraft wurde, weil er angeblich auf kurdisch gepfiffen hatte. Niemand konnte behaupten, dass Kurden Bürger waren, solange sie nicht ihre eigene Sprache in der Öffentlichkeit sprechen oder von den staatlichen Leistungen profitieren konnten, einschließlich den Krankenhäusern, Gerichten oder Schulen, wenn sie kurdisch sprachen.
Wir erinnern uns nur zu gut an die Unterdrückung der privaten Veröffentlichungen und Sendungen. Die Türkei hat jetzt einen staatlichen Kanal, der auf kurdisch sendet. Keine Beschränkungen der Sprache sind geblieben. Auch Öcalan's Brief auf kurdisch wurde in Diyarbakır während der Newroz-Feierlichkeiten in 2013 laut vorgelesen, was viele als einen Wendepunkt ansehen.
Das war die Situation kurz vor den allgemeinen Wahlen am 7. Juni 2015, als die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) 13 Prozent der Stimmen für sich sicherte, die die PKK als Freibrief sah, den Waffenstilstand mit dem Staat zu beenden und den Kampf in die Städte zu bringen.
Wie es jetzt aussieht, kämpft der Staat gegen eine Terrororganisation, die für eine Reihe von Straftaten verantwortlich ist, befinden sich Entführungen, Tötung von Truppen und Polizisten, Bombardierung von Krankenhäusern und Schulen.
Ein Hauptunterschied zu den 1990er Jahren ist, dass jetzt der Staat versucht seine kurdischen Bürger von der PKK-Gewalt zu schützen.
Im Südosten graben die Militanten Gräben, mit Ausrüstungen, die dem Staat gehören - und einer stillschweigenden Zustimmung der Bürgermeister von den regionalen Partnern der HDP die Demokratische Partei der Regionen (DBP)- töten Menschenrechtsaktivisten, wie den Präsidenten der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır Tahir Elçi, setzten eine 16. Jahrhundert Moschee in Brand und versuchen den sozialen Zusammenhalt zu sabotieren. Dabei töten sie die Hoffnung für einen dauerhaften Frieden, den das kurdische Volk braucht.
Die PKK belagert ganze Stadtteile, erschießt Kurden, die ihre Missbilligung zum Ausdruck bringen, während sie sich in den Häusern hinter unschuldigen Menschen verstecken. Der Staat ist entschlossen die terroristische Bedrohung zu bekämpfen, die als nationales Sicherheitsproblem betrachtet wird. Die Beharrlichkeit der HDP, sich der Gewalt anzuschließen, erhöht die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen die Kurden unterdrückt werden.
Dies sind die Fakten zum Stand der Dinge. Zizek's Betrachtungsweise des türkischen Staates als „verdorben" ist unfair. Der Staat, den wir jetzt haben, könnte besser sein, aber es ist eine signifikante Verbessrung im Vergleich, wie es in den 1990er Jahren war.
Ein freundliches Angebot
Zizek täte gut daran, seine Recherche gründlicher zu machen. Wie kann ein so begabter Gelehrter nicht bemerken, dass viele Gruppen in der heutigen Türkei Freiheit genießen, Versöhnung erfahren oder für vergangene Ungerechtigkeiten entschädigt werden? Sozio-ökonomischen Investitionen und kulturelle soziale Rechte werden nun für das kurdische Volk gewährleistet.
Die Regierung leitet weiterhin demokratische Reformen ein und bietet weitere Rechte und Freiheiten zu den langen vernachlässigten kurdischen Bürgern.
Niemand kann bestreiten, dass noch viel zu tun ist. Der türkische Staat ist immer noch groß und mit einer riesigen Bürokratie recht schwerfällig. Bessere Institutionalisierung, mehr Demokratisierung und eine Einführung einer verbesserten Kultur der Verantwortlichkeit sind benötigt.
Doch als Land in einer extremen Region, ist die Türkei immer noch eine funktionierende Demokratie, die einzige Demokratie in der Region. Zugegeben, die Türkei ist nicht eine Oase für die Meinungsfreiheit, obwohl es keine Begrenzung für die Kritik, die man in der Presse machen kann, gibt. Das ist ein riesiger Fortschritt im Vergleich zu nur 10 Jahren.
Ich wünschte Zizek bewertete all die anderen Probleme, die er als Anzeichen für einen zerfallenen Staat anspricht - wie die Gezi-Proteste und Cumhuriyet, um nur zwei zu erwähnen - statt das voreingenommene und schlecht informierte Geschwafel der westlichen Medien über diese überpublizierten Ereignisse nachzuplappern.
Sobald Zizek erkennt, dass seine Bekannten in Istanbul, die höchstwahrscheinlich das Land aus den Grenzen von Cihangir beobachten, verdrehen und verzerren was in der Türkei wirklich geschieht, lade ich ihn herzlich dazu ein, uns bei Daily Sabah für eine ausgewogenere und sachliche Ansichtsweise zu besuchen. Letzten Endes, sind primäre Informationen immer besser als sekundäre Quellen.