Nach einem im Europaparlament bisher beispiellosen Wahlmarathon ist der italienische Konservative Antonio Tajani zum neuen Präsidenten der EU-Volksvertretung gewählt worden. Der 63-jährige ehemalige Industriekommissar setzte sich am späten Dienstagabend im vierten Durchgang in einer Stichwahl gegen seinen sozialistischen Landsmann Gianni Pittella durch. Tajani, der Mitglied der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) ist, erhielt 351 Stimmen, Pittella 282.
Am vierten Wahlgang hatten 713 der 751 Europaabgeordneten teilgenommen. 80 Wahlzettel waren ungültig. Die Stichwahl war notwendig, weil in den ersten drei Wahlrunden keiner der zunächst sechs Kandidaten eine absolute Mehrheit erzielt hatte. Für diesen Fall sieht die Geschäftsordnung ein Duell zwischen den beiden bestplatzierten Bewerbern vor.
Tajani, ein Weggefährte des früheren italienischen Regierungschefs Silvio Berlusconi, wird Nachfolger des SPD-Politikers Martin Schulz, der nicht mehr angetreten war. Tajanis Mandat gilt bis zur nächsten Europawahl Mitte 2019.
Die EVP-Fraktion ist mit 217 Abgeordneten zwar die größte Gruppe im Europaparlament. Dennoch benötigte Tajani Unterstützung aus anderen Fraktionen. Kurz vor der ersten Wahlrunde hatte der Chef der Liberalen, Guy Verhofstadt, seine Kandidatur zugunsten Tajanis zurückgezogen. Erst nach langen Verhandlungen hinter den Kulissen kündigte auch die euroskeptische Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) an, sie werde bei der Stichwahl Tajani unterstützen.
Pittella, der Chef der 189 Mitglieder zählenden sozialdemokratischen Fraktion, wurde von den Grünen und der Linksfraktion unterstützt. Diese hatten schon lange vor der Wahl angekündigt, Tajani sei für sie als enger Vertrauter Berlusconis nicht wählbar. Außerdem werfen sie dem Italiener vor, er habe als Industriekommissar die Augen vor den Manipulationen bei Abgastests von Dieselautos verschlossen.
Bei einer ersten Pressekonferenz nach seiner Wahl kündigte Tajani an, am EU-Parlamentssitz Straßburg festzuhalten. "Es gibt einen Vertrag, es gibt den Gerichtshof, der gesagt hat, was zu tun ist, also muss man die Regeln einhalten", sagte Tajani. Er selbst werde sich an die Regeln halten. In Straßburg müssen vertragsgemäß jährlich zwölf Parlamentssitzungen stattfinden, die übrige Zeit arbeiten die Parlamentarier in Brüssel. Kritiker verweisen auf die hohen Kosten der Rotation zwischen beiden Städten.
Der Machtkampf um den Spitzenposten im Europaparlament war ein ungewöhnlicher Vorgang. Denn in der EU-Volksvertretung ist es seit Jahrzehnten üblich, dass sich die beiden großen Fraktionen das Präsidentenamt für jeweils die halbe Legislaturperiode teilen. So stand es auch in einer Vereinbarung, welche die EVP und die Sozialdemokraten nach der Europawahl Mitte 2014 geschlossen hatten.
Damals verhalf die EVP dem Sozialdemokraten Schulz zur Wiederwahl. Im Gegenzug sagten die Sozialdemokraten zu, im Januar 2017 einen EVP-Kandidaten zu unterstützen. Aufgrund dieser Vereinbarung verzichtete Schulz auf eine neue Kandidatur. Pittella kündigte die Abmachung jedoch auf und gab im Dezember seine Kandidatur bekannt, woraufhin ihm der EVP-Chef Manfred Weber (CSU) öffentlich Wortbruch vorwarf.
Pittella kündigte zugleich die informelle "Große Koalition" auf, auf die sich EVP, Sozialdemokraten und Liberale nach der Europawahl Mitte 2014 geeinigt hatten. Ziel war es, ausreichende Mehrheiten für die Verabschiedung von EU-Gesetzen zu schmieden. Dies ist schwieriger geworden, seit bei der letzten Europawahl mehr als hundert euroskeptische und europafeindliche Abgeordnete ins Straßburger Parlament gewählt wurden.
Zu den ersten Gratulanten gehörte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Die EU stehe vor schweren Aufgaben, erklärte er. Mit seiner europapolitischen Erfahrung als langjähriges Mitglied des Europaparlaments und der EU-Kommission bringe Tajani die Voraussetzungen mit, "das Parlament in schwierigen Zeiten zu führen".