Als auf dem Marburger Bahnhofsvorplatz gegen 13.00 Uhr plötzlich Dutzende Polizisten auftauchen, ist Jan Gönnewig gerade auf dem Weg in seine Raucherkneipe. Der 27-Jährige sieht mehrere Polizeifahrzeuge heranbrausen.
Ein Polizist ruft ihm zu: «Gehen Sie hier weg, hier wird geschossen!» Dann stürmen die Beamten das Geschäfts- und Ärztehaus in der Bahnhofsstraße 30. «Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was los war», berichtet der Kneipenwirt später, noch sichtlich geschockt. «Der komplette Platz - samt Busbahnhof - war bis zum Bahnhof abgesperrt.» Von den Schüssen im Nachbarhaus hat er nichts mitbekommen.
Über das tödliche Drama, das sich neun Tage vor Weihnachten in der riesigen Radiologiepraxis abgespielt hat, ist auch Stunden später noch nicht viel bekannt. Die Polizei findet zwei tote Männer in einem der Räume. Relativ schnell ist klar: Einer der beiden 53 und 67 Jahre alten Ärzte muss auf den anderen geschossen und sich anschließend selbst getötet haben. Die Waffe wird gefunden und sichergestellt. Bald geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der Jüngere der Täter war. Ob er seinen Chef oder einen Teilhaber erschoss, stand zunächst noch nicht fest. «Wie das geschäftliche Verhältnis der beiden zueinander war, wissen wir noch nicht», sagt Staatsanwalt Christian Hartwig.
Wie es überhaupt soweit kommen konnte, weiß zunächst auch niemand. Ob die beiden Männer private oder berufliche Konflikte hatten, stehe noch nicht sicher fest, sagte Hartwig. Einiges deute aber auf unterschiedliche Auffassungen über die Zukunft der Praxis hin, laut Staatsanwaltschaft die einzige Radiologie-Praxis in der mittelhessischen Universitätsstadt.
Es habe Gerüchte über eine Neuausrichtung der Praxis gegeben, berichtet auch Kneipenwirt Gönnewig. Ob die Erschossenen Radiologen waren, wussten die Ermittler zunächst nicht. In der Praxis, ein Diagnosezentrum für verschiedene Erkrankungen, arbeiten auch Ärzte für Nuklearmedizin.
Ob den Schüssen ein Streit vorausging oder ob die Tat von langer Hand geplant war, vermag zunächst niemand zu sagen. Der vermutlich verzweifelte 53-Jährige wartete jedenfalls nicht, bis er mit seinem Kontrahenten allein war. Mehr als zehn Angestellte sollen sich zum Zeitpunkt der tödlichen Schüsse in den Praxisräumen aufgehalten haben, auch Patienten waren dort. Ein Angestellter setzte dann gegen 12.50 Uhr einen Notruf ab.
Als Tatort hatte der Mediziner ein Büro gewählt - ob seines oder das seines älteren Kollegen - muss noch geklärt werden. Wie oft er auf den älteren Arzt schoss, soll die Obduktion der Leichen klären. Nach der Tat tötete sich der 53-Jährige selbst - mit einem gezielten Schuss.
Als die Schüsse am Bahnhofsvorplatz mit seinen weihnachtlich geschmückten Geschäften fallen, denken viele Passanten zunächst an einen Anschlag oder einen Amoklauf. Beides schließt die Staatsanwaltschaft aber recht schnell aus.
Der Schock steht vielen jedoch auch Stunden nach den Geschehnissen noch ins Gesicht geschrieben. Einige werden vor dem Ärztehaus an der stark befahrenen Bundesstraße 3 (Kassel-Frankfurt) von Rettungskräften betreut, auch Notfallseelsorger sind vor Ort.