Knapp drei Monate nach der Kommunalwahl am Bosporus sind die Istanbuler am Sonntag erneut an die Urnen gerufen, um ihren Bürgermeister zu wählen.
Die erste Wahl am 31. März war wegen Unregelmäßigkeiten durch den Hohen Wahlausschuss annulliert worden, nachdem die Opposition sie vorläufig knapp gewonnen hatte. Der Kandidat Ekrem İmamoğlu tritt nun erneut gegen Binali Yıldırım von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AK-Partei) an. Für die Türkei ist die Abstimmung von größter Bedeutung.
Alle Augen sind nun darauf gerichtet, ob der Wahlgang am Sonntag frei und fair verläuft. Und vor allem, ob beide Seiten dieses Mal das Ergebnis des Urnengangs anerkennen.
Bei der Wahl am 31. März hatte İmamoğlu eine hauchdünne Mehrheit errungen. Zwei Wochen später wurde der Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) in sein Amt eingeführt, doch klagte die AK-Partei weiter über "Diebstahl an den Urnen". Unter Verweis auf Verstöße bei der Ernennung einiger Wahllokalleiter annullierte die Wahlkommission Anfang Mai schließlich die Wahl und ordnete eine Wiederholung an. Die AK-Partei hingegen hatte zunächst lediglich eine vollständige Neuzählung verlangt.
Die Entscheidung stieß bei der Opposition auf scharfe Kritik, doch stürzte sich ihr Kandidat umgehend erneut in den Wahlkampf. Der 49-jährige Bezirksbürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beylikdüzü war vor seinem Wahlsieg praktisch unbekannt. Doch mit seinem besonnenen Auftreten und seiner optimistischen Botschaft avancierte İmamoğlu rasch zum Star und Hoffnungsträger der Partei. Kritiker sehen in ihm jedoch einen Opportunisten, der sich mit einer gekonnten Masche an die konservativen Wähler anbiedert, um deren Stimmen zu bekommen. Die Vermutung ist nicht unbegründet, denn die kemalistischen Partei-Hardliner haben sich im Vorfeld der Wahlen untypisch zurückhaltend gezeigt und die Öffentlichkeit gemieden.
Die Wahl steht dieses Mal ganz im Zeichen der Wirtschaft. Anders als im März dreht sich die Debatte vor allem um soziale Themen. Nachdem İmamoğlu den Kampf gegen die Armut und die Arbeitslosigkeit ins Zentrum seiner Kampagne gerückt hatte, zog auch sein Rivale Yıldırım nach. Auf Plakaten versprechen nun beide Kandidaten mehr Unterstützung für Familien, Studenten und Bedürftige.
Der 63-jährige Yıldırım hebt seine Erfahrung als Verkehrsminister und Ministerpräsident hervor und verweist darauf, was seine Partei alles für die Stadt geleistet habe. İmamoğlu dagegen verspricht, das "System der Verschwendung" zu beenden, das die AK-Partei in Istanbul errichtet habe. Die Stadtverwaltung konterte mit Plakaten, auf denen sie erklärt, warum ihre Dienstleistungen keine Verschwendung seien.
Viel hängt nun von der Wahlbeteiligung ab. Die Wahl fällt mitten in die Ferienzeit. Besonders die CHP fürchtet, dass viele ihrer Wähler am Strand sein werden.
In einer neuen Umfrage des Konda-Instituts kommt İmamoğlu auf 49 Prozent, während Yıldırım 40,9 Prozent erreicht. 9,4 Prozent der Wähler sind demnach noch unentschlossen. Das ORC Forschungszentrum sieht dagegen Yıldırım vorn und nur 3,4 Prozent Unentschlossene. Für den Wahltag mobilisiert die CHP 200.000 Wahlbeobachter, auch der Europarat kündigte an, Beobachter zu entsenden.
Eine Schlüsselrolle bei der Wahl spielen die kurdischen Wähler. Die HDP verzichtet erneut darauf, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Ihr inhaftierter Ex-Vorsitzende Selahattin Demirtaş rief in einer Botschaft dazu auf, İmamoğlu zu wählen. Der inhaftierte Gründer der Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan, drängte dagegen in einer Botschaft am Donnerstag die HDP zu einer "neutralen Position".