Wenn man einen Europäer nach den primären Werten der westlichen Welt fragt, dann kommen wahrscheinlich Begriffe wie „Demokratie", „Freiheit" und „Menschenrechte" als Antwort. Diese drei Begriffe weisen einige Gemeinsamkeiten auf: Sie alle stehen in Verbindung zueinander und variieren als Begriffe in ihrer Form, Deutung und Auslegung. Sie dienen auch häufig als Legitimationsmittel für verschiedenste politische und kriegerische Handlungen von Staaten. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen, vor allem in jüngster Vergangenheit. Einen zentralen Platz in den den Debatten um Terrororganisationen nimmt momentan die Frage nach Menschenrechten ein.
Doch was genau versteht man unter dem Begriff „Menschenrechte"? Auch wenn Menschenrechte aus philosophischer Sicht im Sinne des Kulturrelativismus unterschiedlich interpretiert werden können, gelten sie im allgemeinen Verständnis als universell. Sie sind also für jeden Menschen gleichermaßen gültig. Sie sollen die Grundrechte des Menschen bewahren und den ihn schützen, auch vor dem Staat, dessen Teil er zugleich ist. Wie die Beziehungen zwischen dem einzelnen Menschen und dem Staat aussehen, darüber entscheidet im Detail jeder Staat für sich. Die Justiz muss dann die Einhaltung gewähren. Das es hier Unterschiede in der Auslegung gibt, sollte selbstverständlich sein. Der Handlungsspielraum kann unterschiedlich geregelt sein, da historische, politische und soziale Faktoren immer eine Rolle spielen.
Wenn man die Zusammenhänge betrachtet in denen der Begriff „Menschenrechte" heutzutage verwendet wird, erkennt man einige Auffälligkeiten. Aus der eurozentrischen Perspektive heraus werden Menschenrechte fast immer nach außen hin angeprangert. Momentan ist unter anderem die Türkei öfter im Fadenkreuz. Obwohl die Türkei Hauptangriffsziel von Terrororganisationen wie Daesh, PKK oder DHKP-C ist und zugleich Grenzen zu Krisengebieten mit terroristischen Ballungsorten besitzt, wird sie oft dafür kritisiert, zu hart gegen Verdächtige und potenzielle Straftäter vorzugehen und dabei die sogenannten Menschenrechte außer Acht zu lassen. Aus der Türkei heraus betrachtet, stoßen diese Vorwürfe oft auf Unverständnis.
Doch wie sieht es in Europa mit den Menschenrechten aus? Nach innen hin, so scheint es, funktioniert alles vorbildlich, auch wenn bestehende Missstände gerne übersehen oder kleingeredet werden. Im Grunde gewährt man aber allen Angehörigen der Nation die gleichen Rechte. Aber was ist mit den Migranten und Menschen außerhalb der eigenen Grenzen, die als „Fremde" wahrgenommen werden?
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat bereits 1963 in seinem Buch „Das sogenannte Böse" das Verhalten der Gemeinschaft anhand eines Ratten-Beispiels eindrucksvoll geschildert. Er schreibt darin: „Im Rattenrudel gibt es keine Rangordnung". Die Ratten seien innerhalb der eigenen Gemeinschaft „wahre Vorbilder in allen sozialen Tugenden". Sie würden sich jedoch in „Bestien verwandeln", wenn „sie es mit Angehörigen einer anderen als der eigenen Sozietät zu tun haben".
Wie gefährlich eine solch scheinbar humane Gesellschaft werden kann, hat man seit dem Zeitalter der Kolonialisierung immer wieder erleben müssen. Die Kriege und Eroberungen immer wurde großflächiger und forderten immer mehr Opfer. Die fortschrittliche Waffentechnik wurde oft für eigene Zwecke missbraucht, als das sie hätte Probleme lösen können. Letztendlich waren die europäischen Länder auch für die beiden Weltkriege verantwortlich und haben überall auf der Welt das gesellschaftliche und politische Gleichgewicht durcheinander gebracht, mit dessen Folgen sich die Menschheit immer noch konfrontiert sieht.
Auch die aktuelle Flüchtlingskrise ist irgendwo eine Folge des Ungleichgewichts und des westlichen Einflusses auf die Konfliktregionen der Welt. Wie sehr sich das Verhalten der europäischen Gemeinschaft mit dem des Ratten-Beispiels gleicht, merkt man, wenn man sich die Ankunft der jüngsten Flüchtlingswelle in Europa vor Augen hält. Die als „Fremde" wahrgenommenen Menschen, darunter sehr viele Frauen, Kinder, Alte, Schwangere und Säuglinge, wurden von den europäischen Grenzsoldaten abgedrängt und niedergeknüppelt. Sie mussten in sporadisch errichteten Behausungen aus Folien und Plastikmüll, mitten in der eisigen Kälte ausharren. Hilfe kam nur wenig, und meistens waren es außerstaatliche Hilfsorganisationen, die halfen. Dabei ist Europa riesig und nicht gerade arm. Galten für diese Menschen nicht die gleichen Grundrechte? Im Gegensatz dazu hat die Türkei über drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Diese Willkommenskultur hat die Türkei in ihrer Geschichte mehrmals unter Beweis gestellt. Unter anderem nachdem die Juden in Andalusien im 15.Jh. bei der Reconquista aus Spanien flüchten mussten.
Da man im Westen gerne alles rationalisiert, suchte man auch vergebens nach einer kausalen Erklärung für die Aufnahme der Flüchtlinge durch die Türkei. Man wollte sich scheinbar nicht eingestehen, dass eine, in der eigenen Sichtweise zivilisatorisch niedrigere Nation, zu einer Hilfe, die nicht für den eigenen Zweck dient, überhaupt fähig ist. Darin schlummert sicherlich auch irgendwo ein latenter Rassismus, wenn auch ein unbewusster. Und irgendwo ist es auch ein Spiegelbild der eigenen Haltung.
Ein anderes, aber ebenso prägnantes Beispiel, liefert die aktuelle Politik einiger westlicher Staaten gegenüber sogenannten Terror-Verdächtigen. Diese sind aber klar definiert: Muslimisch, fromm und mit möglichen Verbindungen zum Terrornetzwerk. Terrorist ist nämlich primär nur der „Fremde", der die eigene Gemeinschaft bedroht. Dann scheinbar, ist jedes Mittel legitim und jedes Menschenrecht ohne Wert. Wie ein Kleidungsstück, das man sich ablegen kann, wenn es einem nicht mehr passt. Das heißt, jenen Menschen wird das Mensch sein aberkannt, um dadurch die eigene Handlung zu legitimieren. Dann nämlich, wenn sie sich bedroht fühlt, wird die „Ratte" zur „Bestie". Und „was Ratten tun, wenn ein Glied einer fremden Rattensippe in ihr Revier gerät – oder vom Experimentator hineingesetzt wird – gehört zu den erregendsten, schauerlichsten und widerlichsten Dingen, die man an Tieren beobachten kann," so beschreibt Lorenz das Verhalten der Ratten gegenüber fremden Artgenossen.
Die offene Missachtung der Menschenrechte wurde auch von außerstaatlichen Organisationen wie „Amnesty International" scharf kritisiert. Zuletzt im Bezug auf den Ausnahmezustand in Frankreich, wovon aktuell vor allem Muslime betroffen sind. Das Recht auf Versammlungsfreiheit sei völlig unverhältnismäßig eingeschränkt und friedliches zivilgesellschaftliches Engagement würde unterdrückt, hieß es in einem Bericht.
Die Rhetorik nach den Anschlägen in England war auch sehr deutlich. Ein Täter-Profil wurde geschaffen und jeder, der irgendwie dazu tendiert, muss nun um seine Menschenrechte fürchten. Denn „wenn uns unsere Menschenrechtsgesetze davon abhalten, das zu tun, werden wir die Gesetze ändern, so dass wir es tun können," so die Premierministerin Theresa May bezüglich den künftigen Freiheiten von „Verdächtigen".
Wer jedoch als verdächtig gilt, bleibt offen. So wirklich fragt auch niemand danach und genauso leise steht es um die Kritik. Niemand hat Frankreich ernsthaft für die Aussetzung der Menschenrechte kritisiert oder Konsequenzen angedroht und wenn, dann waren es politische Randgruppen, ohne viel Einfluss. Auch nach den skandalösen Worten von Theresa May blieb es still. Man denke an die Schlagzeilen, hätte Präsident Erdoğan ähnliches verlautet. Das europäische Establishment verschließt großzügig Ohren und Augen, wenn so was in der eigenen Gemeinschaft passiert und gegen das „Fremde" gerichtet ist. Eigentlich eine ungeheure Doppelmoral, wenn man bedenkt, dass Europa schnell und gerne andere Staaten kritisiert, mahnt und teilweise isoliert. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, ob man die Werte einhält, die man predigt.
Burak Altun hat Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der WWU Münster studiert. Aktuell arbeitet er als freier Journalist für Daily Sabah und studiert Wissenschaftsphilosophie.