Die Stufen hinunter zu dem Hain aus 101 Kirschbäumen und zu der Gedenktafel mit den vielen Namen: Für Unglücksopfer und Angehörige ist es an diesem Sonntag ein schwerer Gang bei der Gedenkveranstaltung in Eschede. Mancher wischt sich über das Gesicht.
Genau 20 Jahre nach der ICE-Katastrophe in dem kleinen Ort in der Lüneburger Heide sehen sich Überlebende, Verwandte von Opfern und damalige Helfer wieder. Auf der Tafel neben der Brücke, in die der Unglückszug damals hinein raste, stehen die Namen aller Toten mit Geburtsort und -datum: Ehepaare mit und ohne Kinder, Kleinkinder mit ihrer Mutter, Junge und Alte.
Beim bislang schwersten Bahnunglück in der bundesdeutschen Geschichte kamen 101 Menschen ums Leben, 88 Reisende wurden schwer verletzt. Am 3. Juni 1998 kurz vor 11 Uhr entgleiste der Intercity-Express 884 «Wilhelm Conrad Röntgen» in der niedersächsischen Gemeinde und prallte mit Tempo 200 gegen die Betonbrücke.
Der Zug war auf dem Weg von München nach Hamburg. Ursache des Unglücks: ein gebrochener Radreifen, der sich an einer Weiche vor der Brücke verhakt hatte. Ein Strafverfahren gegen die Bahn und den Reifenhersteller wurde 2003 eingestellt.
20 Jahre danach blicken viele Betroffene von oben auf die Gleise, in die Ferne, und als ein ICE mit vollem Tempo vorbeidonnert, wird die Wucht der Katastrophe von damals für einen kurzen Moment greifbar. Angehörige lassen den Gefühlen ihren Lauf, halten einander im Arm oder stützen sich.
Auch Feuerwehrleute halten vor der Gedenktafel inne, mancher spricht von erschütternden Details des Einsatzes. Den knapp 2000 Helfern boten sich furchtbare Bilder. Opfer lagen blutend und eingeklemmt in den zerstörten Waggons und unter den Betonmassen der eingestürzten Straßenbrücke. Andere Passagiere hatten sich selbst retten können und irrten unter Schock am Unfallort umher.
«Die Erinnerung daran ist ständige Mahnung, dass Sicherheit Vorrang vor allem anderen haben muss», sagt Bahn-Vorstand Richard Lutz. Er bekräftigt die Entschuldigung der Bahn für das entstandene menschliche Leid.
Alle Menschen, die damals in dem Unglückszug saßen, hätten sich der Bahn anvertraut. «Und wir müssen dazu stehen, dass wir dieser Verantwortung an diesem Tag nicht gerecht geworden sind», sagt Lutz. Dass es die Bahn erst nach 15 Jahren über sich brachte, sich für die Katastrophe zu entschuldigen, spricht Lutz ebenfalls an: «Die Entschuldigung gilt auch für fehlende Sensibilität im Umgang mit Betroffenen.»
Von einer vermeidbaren Katastrophe und einer gescheiterten juristischen Aufarbeitung spricht Heinrich Löwen von der Selbsthilfe Eschede, in der sich Angehörige und Opfer zusammenschlossen haben. «Es waren Fehleinschätzungen von Menschen, die zu diesem Unglück führten - Fehlleistungen.»
Unbegreiflich sei, dass es keine juristischen Folgen gegeben habe für die Nachlässigkeit bei der Wartung der Räder. «Das Gericht hat uns mit der Einstellung des Verfahrens ein weiteres Mal verletzt.»
Für die Zukunft hat Löwen eine Bitte: Politik und Bahn müssten sich dafür einsetzen, dass Sicherheit absolute Priorität vor allem anderen habe, vor Gewinnmaximierung und Geschwindigkeitsrekorden. «Menschen, die mit dem Zug fahren, sollten unversehrt und sicher ihr Ziel erreichen, denn nichts ist kostbarer als das Leben als solches.» Löwen verlor am 3. Juni 1998 Frau und Tochter.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) versichert beim Gedenken am Sonntag: «Das Zugunglück von Eschede, diese Katastrophe, ist unvergessen.» Ein Grund sei, dass das Unglück die Menschen in einem Moment getroffen habe, als sie sich vollkommen sicher fühlten. «Technik bietet keine ständige Sicherheit», mahnt Weil. Und für das Bundesverkehrsministerium sagte Staatssekretär Ennak Ferlemann (CDU), die für Sicherheit Zuständigen müssten ständig an ihre Verantwortung erinnert werden. «Wir dürfen an dieser Stelle nicht sparen.»