Mustafa Yeneroğlu: Anti-türkische Haltung in Europa, aufgrund Forderung der Türkei für Gleichberechtigung
- ALI ÜNAL, ANKARA
- Jun 08, 2016
Seitdem der Deutsche Bundestag Anfang Juni die Armenien-Resolution als ‚Völkermord' billigte, sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland weiterhin angespannt. Die Daily Sabah sprach mit Mustafa Yeneroğlu, dem Vorsitzenden des Menschenrechts-Untersuchungsausschusses des Parlaments, der in Deutschland für eine längere Zeit lebte und die deutsche Politik von Nahem verfolgt.
Der Zeitpunkt der Resolution und die Zukunft der deutsch-türkischen Beziehungen waren Teil des Gesprächs und Yeneroğlu erklärte, dass diese anti-türkische Haltung für die rechtsextremen und rassistischen Parteien in Europa äußert vorteilhaft sei. Yeneroğlu wies darauf hin, dass ernsthafte und berechtigte Bedenken für das Wohlergehen der türkischen Gemeinden in Deutschland bestehen, da die Resolution die soziale Ausgrenzung verschärfen und den Weg für Angriffe gegen die Türken ebnen könnte.
Er brachte zum Ausdruck, dass der Anstieg des Rechtsextremismus in Europa eine Bedrohung für die existierende liberale Gesellschaftsordnung in Europa sei. Der Hauptgrund der anti-türkischen Haltungen läge an den Forderungen der Türkei für gleichberechtigte Beziehungen zu Europa.
DS: Warum wurde, Ihrer Meinung nach, dieser Entwurf jetzt im Bundestag umgesetzt? Was halten Sie vom Timing?
Wie Sie vielleicht wissen, wurde diese Resolution auch im vergangenen Jahr eingebracht, die deutsche Regierung lehnte jedoch den Vorschlag der Grünen ab. Die Regierung begründete damals die Ablehnung damit, dass der Bundestag nicht über dieses Thema urteilen könnte, da es keine internationalen Gerichtsurteile in Bezug auf die Vorfälle von 1915 gibt.
Im Februar wiederholte der Co-Vorsitzende der Grünen Cem Özdemir diesen Antrag, aber die Bundesregierung forderte den Aufschub, da es negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland haben könnte. Vor allem vor dem EU-Türkei-Gipfel am 7. März. Daraufhin einigten sich die Grünen mit den Christdemokraten auf einen Aufschub bis Juni.
Ihre Hauptbegründung war, dass die Flüchtlingskrise mit der Türkei bewältigt werden müsste, und sobald die politische Tagesordnung sich normalisiert, sollte der Entwurf verabschiedet werden. Dies ist jedoch nicht geschehen. Die Gespräche über die Flüchtlinge sind noch nicht abgeschlossen und weitere Unstimmigkeiten sind dazugekommen.
Während der Bundestag – leider kurzsichtig – mit diesem Entwurf beschäftigt war, sind die außergewöhnlichen Anstrengungen und humanitäre Haltung der Türkei bzgl. der Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien außer Acht gelassen worden. Zudem könnten diejenigen, die fordern, dass die Türkei ihr Gewissen reinigen sollte, sich zunächst selbst in Betracht ziehen. Oft sind es solche, die über das Massaker von hunderttausenden Syrern nur sprechen, aber nie handeln, um ihre komfortable Situation nicht zu gefährden.
Indessen ist der Bundestag nicht einmal in der Lage, sich der eigenen dunklen Vergangenheit zu stellen. Während der Herero-Rebellionen wurden an die 100.000 Menschen von deutschen Soldaten getötet, mit den klaren Anweisungen, jeden männlichen Herero zu töten. In einem Entwurf wurde vorgeschlagen, dass dieses Massaker als Völkermord zu bezeichnen ist, doch distanzierte sich die regierende Partei von diesem. Ein Gesetzentwurf der Linken wurde vom Bundestag abgelehnt, da die Koalitionsparteien strikt gegen den Vorschlag waren, während die Grünen sich enthielten, und dies alles geschah nur vor ein paar Wochen. Die deutschen Gerichte haben auch die Holocaust-Verbrechen als Massenmord bezeichnet, nicht als Völkermord.
DS: Sie sagten, dass dieser Entwurf bereits im vergangenen Jahr diskutiert, aber abgelehnt wurde. Was hat sich Ihrer Meinung nach geändert?
Dies ist die gleiche Frage, die ich mir auch stelle. Nichts hat sich geändert. Keine internationalen Gerichte kamen zu einem Urteil. Im Gegenteil: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hinterfragte die Autorität der Parlamente, ob sie über historische Ereignisse so urteilen darf. Ohne diese zu berücksichtigen, hat der Beschluss des Bundestags, welcher auch auf anti-türkische Haltungen baut, die Aufrichtigkeit der einen Partei in der türkisch-deutschen Beziehung in Frage gestellt.
DS: Wie kann diese Verabschiedung des Entwurfs erklärt werden?
In den letzten Monaten gab es erheblichen Druck auf Bundeskanzlerin Merkel. Sie wurde so dargestellt, als ob sie sich in der Flüchtlingsfrage der Türkei fügte. Tatsachen über die Türkei, vor allem in Bezug auf die Menschenrechte, die Freiheit der Presse und der Krieg gegen die Terrororganisation sind verzerrt dargestellt und die anti-türkischen Haltungen kontinuierlich gepflegt.
Unter anderem wurde der Entwurf durch diejenigen erstellt, die sich an der Bekämpfung der terroristischen Organisationen stören und bemüht sind, die Türkei in die Enge zu treiben. Obwohl Frau Merkel solch einem Druck ausgesetzt war, hätte sie mit erhobenem Haupt stehen können. Deshalb ist die Haltung Merkels zu dieser Resolution enttäuschend.
DS: Wie wird sich dies auf die türkisch-deutschen Beziehungen auswirken?
Leider sind die Gruppen, die sich wünschen, dass sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland verschlechtern, zahlreich und mächtig in Deutschland. Wir haben insbesondere die despektierliche Haltung des Wahlkämpfers der HDP, Cem Özdemir gegenüber der Türkei und dann die Linke, die offen mit der Terrororganisation PKK symphatisiert und sich für die Legitimität der PKK einsetzt. Mit den zunehmenden anti-türkischen Haltungen wird die aktuelle Situation von SPD und CDU und unter ihnen solchen, die erwarten, dass der Türkei eine Lektion erteilt wird, unterstützt.
Ich kann nur hoffen, dass die türkisch-deutschen Beziehungen keinen dauerhaften Schaden erleiden. Wir haben historisch weitläufige Partnerschaft mit Deutschland. Über drei Millionen Türkischstämmige leben in Deutschland. Sie stehen für millionenfache Freundschaften und als Brücke für unsere intensiven Beziehungen. Ebenso leben in der Türkei an die 100.000 deutsche Bürger.
Neben diesen, gibt es mehr als tausend Kooperationsabkommen zwischen den Hochschulen, Deutschland ist der wichtigste Handelspartner, wir haben sehr gute Projeke im Bereich von Kultur und Bildung laufen. Ich glaube, dass diese nicht außer Acht gelassen werden sollten. Es ist nicht nachvollziehbar, dass trotz dieser intensiven Beziehunen konjunkturell bestimmte destruktive Haltungen einen solch großen Zuspruch erfahren. Deswegen ist der Entschluss des Bundestages auch für mich persönlich enttäuschend.
DS: Welche Auswirkungen werden diese Entwicklungen auf die Türken in Deutschland haben?
Die Türken in Deutschland erleben bereits Ausgrenzungen, Diskriminierung und rassistische Angriffe. Es gab 2015 an die 100 Angriffe auf Moscheen allein in Deutschland, während es mindestens drei Übergriffe auf Flüchtlinge täglich gibt. Darüber hinaus wurde der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) noch nicht gelöst. Unter den Opfern gab es acht Türken. Leider wird weder den Vorwürfen, dass Geheimdiensteinheiten die NSU unterstützt haben, vorgegagen noch wird das Thema des institutionalisierten Rassismus ernsthaft problematisiert. Die bilaterale Verstimmung führt zu größerem Druck von allem auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Wir müssen aus dieser Sackgasse herauskommen. Es darf nicht sein, dass gegenseitige Vorwürfe und im besten Fall Nonkommunikation die Beziehungen beherrscht. Im Gegenteil, wir brauchen mehr denn je auf allen Ebenen Begegnungen und wir sollten auch mehr die Streitkultur pflegen, um dadurch gegenseitig Empathie zu entwickeln.
DS: Wie Sie schon gesagt haben, sind die rechtsstehenden Bewegungen auf dem Vormarsch in Deutschland und in ganz Europa. Es ist möglich, dass dies auch in den nächsten Wahlen des Europäischen Parlaments spürbar sein wird. Wie sehen Sie die Zukunft der Beziehungen zwischen der Türkei und eines zunehmend rassistischen Europas?
Zunächst möchte ich feststellen, dass die anti-türkischen Haltungen allen rechtsextremistischen und rassistischen Parteien in Europa dienen; daraus schöpfen sie ihre Identität. Der Entwurf über die Vorfälle von 1915 wird die Rechtsbewegungen in Deutschland stärken. Dieses Gesetz wird den Weg für mehr anti-türkische Propaganda ebnen, während es den rechtsextremen Bewegungen ermöglicht, ihren Hass zu verbreiten.
Daher werden in nächster Zukunft die Existenz, Einheit und Werte Europas unter Beschuss stehen. Die Beziehungen zur Türkei sollten vor dem Hintegrund der Ideale Europas gefördert werden. Multikulturalismus und religiöser Pluralismus sollten als Reichtum wahrgenommen werden und für dieses freiheitliche Verständnis sollte man in der Gesellschaft stärker eintreten.
Allerdings zeigen die Entwicklungen eine völlig konträre Situation. Mit Verbitterung beobachte ich, wie nationalistische Bewegungen europäischen Gesellschaften voneinander isolieren. Dadurch wird Europa ärmer, freiheitliche Errungenschaften der letzten Jahrzehnte werden abgesägt und der Druck auf Minderheiten nimmt weiter zu.