Heikle Themen haben Fatih Akin noch nie abgeschreckt. Auch jetzt greift der Sohn türkischer Einwanderer wieder einen hochaktuellen Stoff auf: In seinem Cannes-Wettbewerbsbeitrag «Aus dem Nichts» erzählt der 43-Jährige von einer Frau, die bei einem Bombenanschlag in Hamburg ihren Mann und ihren Sohn verliert - schon bald werden Parallelen zu den Morden des rechtsextremen NSU deutlich.
Das packende Drama mit Hollywoodstar Diane Kruger in der Hauptrolle ist die bemerkenswerte Rückkehr des Regisseurs in den Wettbewerb der Filmfestspiele an der Croisette. Und zugleich macht es Akin zu einem großen Favoriten auf einen der Hauptpreise.
Diane Kruger spielt Katja. Sie ist mit dem Kurden Nuri verheiratet, gemeinsam haben sie einen kleinen Sohn und leben in Hamburg. Dann aber, «Aus dem Nichts», zerbricht Katjas Leben. Bei einem Bombenanschlag sterben ihr Mann und ihr Sohn.
«Es ist meine persönliche Verarbeitung mit dem Phänomen NSU», sagte Akin im Interview der Deutschen Presse-Agentur anlässlich der Premiere des Films am Freitagabend. «Als jemand mit türkischem, mit ausländischem Hintergrund hatte ich da schon das Gefühl, das mich das persönlich angeht. Das hätte auch mich treffen können.» Er finde es «sehr skandalös», dass die Ermittler den Opfern und ihren Familien über lange Zeit eine Mitschuld gegeben hätten.
«Aus dem Nichts» erinnert in seiner Intensität an Akins großen und mehrfach ausgezeichneten Erfolg «Gegen die Wand». Auch jetzt beweist er viel Einfühlungsvermögen und ein präzises Gespür für seine Hauptfigur und erzählt auf beklemmende Weise von Katjas scheinbar aussichtslosem Kampf um Gerechtigkeit. Denn selbst als ein Neonazi-Paar als tatverdächtig verhaftet wird, bedeutet das keine Genugtuung.
Getragen wird das Drama, das die Zuschauer auch über den Abspann hinaus beschäftigt, von einer überragenden Diane Kruger. Der im niedersächsischen Hildesheim geborene Hollywoodstar von Blockbustern wie «Troja» verkörpert Katja überzeugend als eine Frau, die trotz ihres Traumas einen kämpferischen Geist beweist. Selten hinterließ die 40-Jährige einen stärkeren Eindruck - spannend ist dabei auch, dass Kruger hierfür das erste Mal auf Deutsch drehte.
Dies könnte am Sonntagabend mit einem der Hauptpreise belohnt werden, vielleicht sogar mit der Goldenen Palme. Nach Wim Wenders mit «Paris, Texas» wäre es die erste Palme für einen deutschen Filmemacher seit mehr als 30 Jahren. Gemessen am Applaus in Cannes, scheint das sogar nicht unmöglich.
Allerdings ist das Feld der Favoriten in diesem Jahr schwer abzugrenzen. Denn trotz zahlreicher großer Namen blieben viele Regisseure hinter den Erwartungen zurück. Über Michael Hanekes «Happy End» etwa gab es sehr unterschiedliche Meinungen. Dennoch hätte der Österreicher gerade wegen der Subtilität und Andeutungen zur Flüchtlingskrise in Europa Chancen auf eine Auszeichnung.
Stark waren außerdem die beiden russischen Gesellschaftsbilder «Loveless» über ein Kind, das unter der Scheidung seiner Eltern leidet, und «A Gentle Creature», in dem der in Berlin lebende Sergei Loznitsa ein System aus Korruption und Willkür zeigt. Weit oben in der Zuschauergunst liegt darüber hinaus das bewegende Drama «120 battements par minute» über den Kampf von Aids-Aktivisten in Frankreich.
Doch welche der 19 Beiträge am Sonntag tatsächlich auszeichnet werden, war selten so unklar - zumal in der Jury unter Vorsitz von Pedro Almodóvar so unterschiedliche Filmschaffende wie Maren Ade und Will Smith sitzen.