Millionen Arbeitnehmer in Deutschland haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn - bekommen ihn aber nicht. Betroffen sind vor allem Mini-Jobber, Beschäftigte in kleinen Firmen, Frauen und Ausländer, heißt es in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Ein Grund ist demnach, dass Unternehmen die staatlichen Vorschriften umgehen. Die Studie fordert daher mehr Kontrollen sowie härtere Strafen für Arbeitgeber.
Die am Mittwoch veröffentlichte DIW-Studie stützt sich auf die Befragung von 30.000 Menschen in 15.000 Haushalten für das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) - und nicht auf Angaben der Arbeitgeber, auf die sich die Mindestlohnkommission der Bundesregierung verlässt. Laut der Befragung verdienten im vergangenen Jahr 1,8 Millionen Menschen trotz Anspruchs auf Mindestlohn weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Diese Zahl liege damit deutlich über den 1,1 Millionen Beschäftigten aus der amtlichen Statistik, heißt es in der Studie.
Werde der tatsächliche Stundenlohn betrachtet - also auf Basis der tatsächlichen statt vertraglichen Arbeitszeit gerechnet - dann arbeiten laut Befragung sogar 2,6 Millionen Menschen unterhalb des Mindestlohns, obwohl sie darauf Anspruch haben. In ihrem Vertrag steht zwar ein Stundenlohn von 8,50 Euro brutto, sie arbeiten effektiv aber so lange, dass dieser Stundenlohn niedriger ist. Der Arbeitgeber bezahlt zum Beispiel Vorbereitungs-, Warte- und Bereitschaftszeiten nicht mehr oder nur noch geringer. Andererseits gibt es aber auch Beschäftigte, die freiwillig unbezahlte Überstunden leisten, wie die Studienautoren erklären.
In einer Extra-Umfrage für das SOEP im August und September dieses Jahres sagten vier Prozent der Befragten, ihr Arbeitgeber umgehe das Mindestlohngesetz. Weitere 17 Prozent sagten, jemand aus ihrem persönlichen Umfeld sei davon betroffen.
"Offensichtlich - und keineswegs unerwartet - wird das Mindestlohngesetz nicht in jedem Betrieb eins zu eins umgesetzt", erklärte Studienautorin Alexandra Fedorets. Auch Ergebnisse der Kontrollen des zuständigen Zolls sowie Medienberichte wiesen auf Umgehungsstrategien durch "intransparente oder inoffizielle Arbeitszeitvereinbarungen" hin.
Grüne und Linke im Bundestag forderten "endlich" mehr Kontrollen. Der zuständigen Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) fehle dafür ausreichend Personal, wie Beate Müller-Gemmeke von den Grünen kritisierte. 900 Stellen seien nicht besetzt. Susanne Ferschl von den Linken forderte, die Mindestlohnkommission sollte schleunigst ihre Datengrundlage korrigieren und sich für verstärkte Kontrollen einsetzen.
Die Studie macht laut Müller-Gemmeke auch deutlich, wie wichtig die Dokumentationspflicht beim Mindestlohn ist. "FDP und Union wollen die Dokumentationspflicht reduzieren. Das geht gar nicht." Ohne eine Pflicht, Anfang, Ende und Dauer der Arbeitszeit zu dokumentieren, sei ein Mindestlohn nichts wert.
Die DIW-Studie belegt mit hochgerechneten Zahlen aus den Befragungen für das SOEP auch, wie groß der Niedrigeinkommensbereich in Deutschland tatsächlich ist. Denn viele Erwerbstätige fallen nicht unter das Mindestlohngesetz - Selbstständige etwa, Auszubildende oder Beschäftigte in Branchen, in denen längere Übergangsfristen ausgehandelt wurden. Danach gab es 2016 sogar 4,4 Millionen Menschen, die vertraglich unter 8,50 Euro Stundenlohn bekamen. Auf Basis der tatsächlichen Arbeitszeit waren es demnach sogar 6,7 Millionen.