Deutschland: Viele Mütter duldeten Kindesmissbrauch

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BERLIN, Deutschland
Veröffentlicht 14.06.2017 00:00
Aktualisiert 14.06.2017 11:59
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Zum ersten Mal wird in Deutschland die Dimension sexuellen Kindesmissbrauchs in Familien sichtbar. Vor einer Unabhängigen Kommission schildern hunderte Betroffene im Rückblick Übergriffe in ihrer Kindheit.

Johannes-Wilhem Rörig beschäftigt sich als Missbrauchsbeauftragter des Bundes seit Jahren mit diesem Tabu-Thema. Trotzdem haben ihn die Ergebnisse der ersten Zwischenberichts der Kommission erschüttert.

Frage: Der Bericht hat Mütter im Fokus - als Mitwisserinnen und Dulderinnen von Kindesmissbrauch. Ist das neu für Sie?

Rörig: Es ist mir in dieser Tiefe neu. Die sehr persönlichen Schilderungen von Einzelschicksalen in Familien erschüttern mich. Die Aufarbeitung auch in der Familie ist absolutes Neuland, national und international. Der Bericht gibt einen tiefen Einblick in das Versagen von Müttern. Er zeigt aber auch, wie wenig sie sich zu helfen wissen. Es ist erschreckend, wie häufig Betroffene der Kommission berichtet haben, dass ihre Mütter ihre Schutzrolle nicht wahrgenommen haben. Sie sind als Mitwisserinnen nicht eingeschritten und haben ihren Kindern die geforderte Hilfe verwehrt. Es gab Fälle, in denen Kinder ihre Mütter gefragt haben: «Weißt du überhaupt, was der Papa mit mir macht?». Und die Mütter haben dann ihre Töchter als Hure oder Schlampe beschimpft. Anderen war der Schein einer Vorzeige-Familie wichtiger als ihr Kind.

Frage: In der Kommission schildern Erwachsene im Rückblick Übergriffe in ihrer Kindheit. Meinen Sie, dass heutige Kinder und Jugendliche ähnliche Erfahrungen machen?

Antwort: Die Gefahren sind immer dort besonders groß, wenn ein starkes Macht- und Abhängigkeitsverhältnis in einer Familie vorherrscht. Und wenn sie relativ abgeschottet von der Außenwelt lebt. Eine Rolle spielt auch, dass viele Mütter emotional und auch finanziell von Partnern abhängen, die den Missbrauch begehen. Und dass Mütter nicht wissen, wohin sie sich wenden können. Wir müssen Lösungsangebote machen, damit eine Mutter einen Konflikt immer mit Blick auf das Kindeswohl löst - und nicht die Gefahr des Auseinanderbrechens der Familie als größer einschätzt.

Frage: Es konnten bisher wenige hundert Einzelschicksale ausgewertet werden. Ist das repräsentativ?

Antwort: Es ist bekannt, dass die Familie einer der häufigsten Tatorte für Missbrauch ist. Das bestätigt sich. Es geht aber vor allem darum, jenseits von Zahlen und Statistiken Betroffenen zuzuhören. Es geht darum, Missbrauch und seine Folgen durch die Perspektive der Betroffenen zu verstehen und als Gesellschaft sensibler zu werden. Das ist wichtig für die Zukunft. Damit wir besser reagieren können. Das ist ja der Sinn dieser Kommission.

Was muss sich ändern?

Als erstes brauchen wir ein Wachrütteln der Bevölkerung. Wir brauchen Aufklärungskampagnen, die vom Investment her vergleichbar sind mit den großen Anti-Aids-Kampagnen in Deutschland. Es gibt pro Jahr bundesweit geschätzt rund 100 000 Fälle von sexuellem Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Hochgerechnet auf die minderjährige Bevölkerung sind das mehr als eine Million Mädchen und Jungen, die unter den Folgen leiden. Der Missbrauch findet täglich und überall mitten unter uns statt. Das ist aber immer noch nicht im Bewusstsein unserer Gesellschaft angekommen.

ZUR PERSON: Johannes-Wilhelm Rörig, Jahrgang 1959 und Vater zweier Kinder, ist seit Dezember 2011 der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. 2014 wurde er erneut für fünf Jahre berufen. Rörig ist Diplom-Betriebswirt und Jurist. Er arbeitete als Richter, bevor er 1998 ins Bundesfamilienministerium wechselte.

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